30 JAHRE FOTOGRAFIE IM ZEITRAUM 

KOSCHIES – DIE KUNST DES CHRONISMUS

„Du musst so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am selben Platz bleiben willst“, mahnt die Rote Königin in Lewis Carrolls „Alice hinter den Spiegeln“. Im richtigen Tempo müssen sich ebenfalls die Menschen vor der Schlitzkamera des Künstlerduos KOSCHIES bewegen, um auf dessen Bildern in statischen Posen wahrnehmbar zu sein. Ruhende oder zu langsame Objekte hinterlassen auf diesen Aufnahmen nichts als horizontale Streifen. Der allgegenwärtige Zeitdruck, dem sich die moderne Menschheit unterwirft, bietet sich sofort an als Assoziation zur frühen schwarz-weißen Fotokunst der KOSCHIES. 

Ihren Zyklus „THE HUMAN RACE“ entdeckte ich im Juli 2011, als die Künstler ihre Bilder in Potsdam präsentierte. Die Serie, begonnen 1990 in Zusammenarbeit mit dem Berliner Performance-Künstler Käthe Be, war bereits 2009 im Zuge einer Einzelausstellung in der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen gezeigt worden. 

PONTIUS & PILATUS, 2004

Besonders eines dieser langen schmalen Schwarz-weiß-Bilder, die an Filmstreifen erinnern, hatte es mir angetan, seitdem hängt es in meinem Arbeitszimmer: „PONTIUS & PILATUS“ von 2004. Ein Mann mit Zylinder hetzt mit fliegenden Frackschößen zum linken Bildrand, gefolgt von seinem Schatten. Dahinter sein Ebenbild, dieses aber mit „falschem“ Schattenwurf. Das irritiert und fasziniert, denn es handelt sich keineswegs um digitale Manipulation.

DIE DARSTELLUNG VON ZEIT IM RAUM

Wie können wir Raum und Zeit visuell darstellen, auf neue Art wahrnehmbar machen? Diese Frage hatte sich das Künstlerpaar gestellt und löste sich vor dreißig Jahren von den gängigen Verfahren des Fotografierens oder Filmens. Seit 1990 arbeiten die beiden mit Schlitzkameras; Kameras ohne Verschluss, nur mit einem permanent geöffneten, extrem schmalen Schlitz. Auf dem dahinter stetig vorbeirollenden Film wird ein durchgängiges, von links nach rechts fließendes Bild erzeugt. Im fotografischen Ergebnis sehen wir, welche Bewegungen im Laufe der Aufnahmezeit vor dem Kameraschlitz stattfanden. 

Die Aufnahmen einer Schlitzkamera können nicht wie bei einer „normalen“ Kamera kontrolliert werden. Für ein künstlerisch zufriedenstellendes Ergebnis sind daher neben sorgfältigen Vorbereitungen viele Versuche notwendig, egal wie perfekt die KOSCHIES ihr Werkzeug durch die lange Praxis auch beherrschen. 

Im Laufe der Jahre entwickelten die Künstler aufgrund der speziellen Aufnahmetechnik eine eher für den Film typische Arbeitsweise. Doch trotz Drehbuch und aufwendiger Planung gibt es immer wieder Überraschungen. Und gerade dieses Unberechenbare reizt die beiden, denn es sorgt für eine ständige Erweiterung des künstlerischen Spektrums. 

FUTUR 2 (Yasemin Șamdereli), 2011

Das Verschmelzen der zeitlichen und räumlichen Achse auf einem Bild nachzuvollziehen, bedeutet eine große Herausforderung. Da wir uns an eine bestimmte Sichtweise gewöhnt haben, ist es schwierig zu verstehen, dass hier der zeitliche Ablauf in einem Raum abgelichtet wird; dass aus statischen Posen Dynamik entsteht und aus Bewegung Stillstand.

VON SCHWARZ-WEISS ZUR FARBE

Zwanzig Jahre lang hatten KOSCHIES mit analogen Schlitzkameras und einem speziellen schwarz-weißen Negativfilm gearbeitet. Die damit geschaffenen grobkörnigen Bilder strahlen die Aura archaischer Kameratechnik aus und fesseln gleichzeitig durch das Rätselhafte, fast Unerklärliche dieser besonderen Aufnahmemechanik.

2010 begann das Künstlerpaar mit Farbe zu experimentieren und wechselte zur digitalen Aufnahmetechnik. Die digitale Schlitzkamera funktioniert im Prinzip wie ihr analoges Pendant, nur dass hinter dem immer geöffneten Schlitz die Aufnahme statt auf Filmmaterial nun ebenso kontinuierlich digital festgehalten wird. „Neben dem Aspekt der Farbigkeit ist es uns seitdem auch möglich, detailreichere Bilder zu erschaffen“, so die KOSCHIES. „Zudem ist die digitale Kamera transportabel und erlaubt uns erstmals chronistische Naturaufnahmen.“ 

Für ihre farbige Serie „RUNNING DIRECTION“ von 2011/ 2012 schickten die beiden vierzehn Regisseurinnen und Regisseure wie z. B. Andreas Dresen, Dani Levy, Pola Schirin Beck, Strawalde, Volker Schlöndorff oder Yasemin Șamdereli in ihren Zeitraum. Entstanden sind verrückte und dynamische Bilder, die das Philosophieren über Zeit und Raum in poetische Fotomalerei übertragen. 

DER KOPF ALS LANDSCHAFT

Bereits seit 2015 arbeiten KOSCHIES an Porträts, und mit der Reihe „SURFACES“ präsentieren sie aktuell eine weitere Etappe in ihrem Kunstschaffen. 

In der Geschichte der Malerei, Zeichnung, Skulptur oder später in der Fotografie wurde schon immer versucht, im Porträt das Wesen eines Menschen zu erfassen. Doch ein statisches Abbild einer Person zu schaffen wird der vielschichtigen Erscheinung des Menschen oft nicht gerecht.  

Die „SURFACES“ sind ein Glaubensbekenntnis an eine Porträtkunst, die gegenständliche Konventionen bei der Darstellung des menschlichen Kopfes aufbricht und dabei durch essenzielle Verfremdungen seinem Geheimnis auf der Spur ist. Sie verweisen in ihrer Infragestellung traditioneller Repräsentationen des menschlichen Hauptes auf Einflüsse von Künstlern wie Picasso, Francis Bacon oder Fiona Tan.

Doch ob gemalt, geformt, gefilmt – zumeist ist der entscheidende Faktor der Darstellung eines Menschen die eigene Wahrnehmung, also die des Gestaltenden, Abbildenden, dessen Perspektive, die den Blick bewusst oder unbewusst auf das scheinbar Wesentliche lenken will.

KOSCHIES suchen einen anderen Ansatz. Mit ihrem Zyklus „SURFACES“ transformieren sie die Ansichten menschlicher Köpfe in eine fließende Materie, die bei den Betrachtenden zunächst für Verwirrung und oft auch Verstörung sorgt. Die dargestellten Gesichter wirken auf den ersten Blick verzerrt, sie wecken Assoziationen an Häutungen und strahlen gerade deshalb eine besondere Verletzlichkeit aus. 

DAS MIRAKEL DES IASON, 2018

Während wir instinktiv versuchen, die Darstellungen zu entziffern und mit der eigenen Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt in Einklang zu bringen, setzen die „SURFACES“ irritierende Empfindungen frei. Sie machen neugierig und polarisieren, sie wirken anziehend oder auch abstoßend. Auf jeden Fall aber ermöglichen sie einen ganz neuen Blick auf die dargestellte Person. Die mit der Schlitzkamera erstellten Fotografien ermöglichen eine Rundumsicht auf das abgelichtete Modell; emotionale Veränderungen im Laufe der 30 Sekunden, in denen die Aufnahme lief, werden dabei kartographiert. 

Während in der Malerei wie in der Fotografie meist bereits ein Bild im Kopf der Darstellenden entstanden ist, das nun auf eine Oberfläche übertragen wird, lassen sich die KOSCHIES auf die Überraschung ein. Für das Künstlerpaar sind diese Bildnisse ein Weg, dem Geheimnis des menschlichen Wesens näherzukommen. 

Die aktuelle Porträtreihe stellt gleichzeitig eine Zäsur dar und den Aufbruch in eine neue, wichtige Phase in dem nun schon über drei Jahrzehnte anhaltenden künstlerischen Schaffen, welches die beiden Künstler unabhängig von kurzlebigen zeitgeistigen Kunstströmungen beständig weiterentwickeln. 

 

Constanze Suhr