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RUNNING DIRECTION

Potsdamer Neueste Nachrichten (PNN) vom 22.10.2011

 

Rätselhaftes Spiel mit der vierten Dimension

Neue Ausstellung des Künstlerpaares Koschies in der Galerie Sperl: Vierzehn Regisseure versuchen, vor einer Schlitzkamera mit der Zeit zu gehen

Von Steffi Pyanoe

 

„Wissen Sie, machen Sie sich keine Sorgen, wir kommen auch immer wieder durcheinander.“ Axel Koschies steht vor einem seiner neuen Bilder, die ab dem morgigen Sonntag in der Sperl-Galerie über dem Nikolaisaal unter dem Titel „Running Direction“ zu sehen sind. Und versucht, die Entstehung des langen Querformats mit den verzogenen, teils doppelten, identischen Akteuren im Bild zu erklären. Das ist für alle eine geistige Herausforderung – die allerdings Spaß macht. Einmal mehr gegen die Konvention denken, eingefahrene Sichtweisen infrage stellen. „Streng genommen sind das ja auch keine Fotos“, sagt Rainer Sperl. „Es ist viel mehr als Fotografie, es ist die vierte Dimension“.

Was geheimnisvoll und futuristisch klingt, sind keine Aufnahmen aus dem Fenster von Raumschiff Enterprise. Das Künstlerehepaar Koschies hat „einfach“ mit einer Schlitzkamera gearbeitet, seit 20 Jahren experimentieren sie mit dieser ungewöhnlichen Methode, Birgit Koschies hinter der Kamera, Axel als Drehbuchautor für die kurzen Dramen, die sich vor dem laufenden Film abspielen. Um das zu verstehen, muss man die Funktionsweise herkömmlicher Kameras, die durch einmalige Belichtung ein Bild aufnehmen oder mit 25 Bildern pro Sekunde den Stillstand zu einer Bewegung verdichten, vergessen. Die Schlitzkamera hat ihren Namen von einem engen vertikalen Schlitz, der ständig offen ist. An diesem läuft kontinuierlich der Film vorbei und wird ständig belichtet. Ein Gegenstand, der vor der Öffnung still steht oder liegt, ist folglich im Bild als lang gezogener Strich erkennbar. Nur wenn sich die Person mit derselben Geschwindigkeit wie der laufende Film bewegt, entsteht ein einigermaßen scharfes Abbild. Der Film von vier bis 15 Sekunden Länge bildet die Zeit ab – jene vierte Dimension. Unbestechlich objektiv lässt sich dadurch ablesen, was wann geschehen ist. Auch deshalb wurde diese Art Kamera bei Wettkämpfen gern am Zielpunkt von Rennen eingesetzt, falls es Unklarheiten geben sollte, wer als erster Hand oder Fuß über der Ziellinie hatte.

Wie sehr man mit dieser Technik kreativ spielen konnte, wurde den Koschies mit der Zeit mehr und mehr klar. Als Elizabeth Prommer, die das Projektbüro „Potsdam – Stadt des Films“ leitet, bei dem Künstlerpaar anfragte, ob sie etwas zu dem Thema beisteuern könnten, war das Projekt „Running Direction“ schnell geboren. Als extra Schmankerl gewannen die Autoren 14 Filmregisseure, die sich jeweils einen Tag lang auf die andere Seite der Kamera stellten. Und sichtlich ihren Spaß dabei hatten, wie Axel Koschies findet. Aus den Komponenten Zeit, Licht, Wind und Akteur in Aktion, also Bewegung, wurden 20 Bilder unterschiedlichster Ausrichtung, vor denen man erst einmal sprachlos steht. Man kann sie einfach in ihrer Andersartigkeit genießen, aber richtig Spaß macht es erst, sich der Herausforderung zu stellen, das Rätsel der Aufnahme lösen.

Verzerrt-verspielte Wirklichkeit. Der Regisseur Dani Levy in Aktion mit einem Kajakpaddel. Foto: Koschies

Wie ist die Person am Schlitz vorbeigelaufen, vorwärts, rückwärts, und lief sie überhaupt? Wo ist der Schatten, warum wechselt er die Richtung? Warum ist erst ein Koffer im Bild und dann die Person, und wo kommen die losgelösten Arme her? Man könne das Prinzip der Kamera auch so erklären: Stillstand erscheint im Bild als Bewegung, und was sich bewegt, wird, wenn alles klappt, als scharfes Bild sichtbar. „Wir zeichnen die Zeit auf“, sagt Birgit Koschies.

Mühsam war das; pro Bild sind etwa 50 Aufnahmen nötig, um sicherzugehen, dass am Ende des Tages etwas Brauchbares dabei ist. Wieder und wieder musste dann Volker Schlöndorff mit seiner Blechtrommel durch das oder mit dem Bild laufen. „Jürgen Böttcher / Strawalde haben wir etwas geschont, er ist ja schon achtzig“, sagt Axel Koschies. Der älteste Protagonist brauchte „nur“ mit dem richtigen Timing durch die Aufnahmefläche zu laufen, dann verharrte er im Stillstand, ließ sein zweites Bein sozusagen links liegen. So ist eine Art Supermann-Effekt entstanden. Ein forscher Strawalde mit Feuerschwanz. „On Fire“ heißt das Bild folgerichtig.

„Ballroom“ ist das größte Bild, das nur ins Foyer des Nikolaisaals passt: ein richtiges kleines Szenario. Pola Schirin Beck und Andreas Kannengießer, die jüngsten Regisseure der Gruppe und wie Strawalde Absolventen der Filmhochschule in Babelsberg, spielen Ball. Je nach Aufprall-Verhalten ist dieser aberwitzig deformiert, die Schatten, verzerrte Punkte, tragen ihr Übriges zur Verwirrung bei.

Mittlerweile benutzen die Koschies eine digitale Kamera, die sie sich für ihre Projekte ausleihen, und können auch in Farbe drehen, ihr „erstmaliger Einsatz farbiger Zeitfotografie in einer Ausstellung“, wie sie sagen. Die Farbigkeit verdeutlicht den spielerischen Ansatz, das Experimentelle. Andreas Dresen sitzt wie ein schokoladenbrauner, wild gestikulierender Buddha, nach Scherenschnittart multipliziert und lacht in die Kamera. Pola Schirin Beck läuft gleich zweimal durch das Bild, im Hintergrund ein leuchtend roter, zarter Schleier, der beide Bewegungen verbindet. Die „Gesetzmäßigkeit der Zeit“ macht es möglich.

Gleich im Eingang hängt ein Bild, das das Prinzip verständlich werden lässt: Ein kleiner Ball hüpft auf dem Boden auf und ab. Im Bild zeichnet er eine Kurve mehrerer nach unten offener Parabeln, die in der Höhe abnehmen. Mitnichten sei der Ball „aus dem Bild gerollt“, sagen die Künstler. Die Kurve zeige den Zeitverlauf. Wer das einmal verstanden hat, dem erklären sich auch die restlichen Bilder. Wenn er denn möchte. Denn auch ohne das Wissen um die Entstehung sind sie Kunstwerke, die einen Galeriebesuch lohnen.